Sonntag Quasimodogeniti ("Weißer Sonntag")

Den „Weißen Sonntag“ dürfen wir begehen als Erinnerung an unsre Taufe und auch an unsre Konfirmation. „Quasi modo geniti“ (das ist: „wie eben gerade geborene Kinder“) heißt dieser 1. Sonntag nach Ostern auch. Und ich frage mich: Möchte ich so sein: neugeboren, hilflos, ganz abhängig? Nein, eigentlich möchte ich mich selber versorgen und das Leben so gestalten, wie es mir gefällt. Schön allerdings ist die Vorstellung, ganz neuanfangen zu dürfen, ohne den Ballast der Vergangenheit, ohne meine zahlreichen Fehler, die mich immer wieder belasten; ohne die Sorgen, die das Leben schwer machen; ohne die Angst um die Gesundheit und die Zukunft meiner Kinder und Enkel in unsrer durch die Gier der Menschen gebeutelten Natur; ohne die Frage, ob denn mein Dasein Sinn hat! Aber solche Sorgen haben die Menschen seit eh und je niedergedrückt und oft in tiefe Depression fallen lassen. Hören wir, wie ein Gottesmann, wir nennen ihn den 2. Jesaja, vor rund 2 ½ tausend Jahren seine total verzagten Volksgenossen ermutigt hat:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies (den Sternenhimmel, das Weltall) geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel sagst: Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? – Weißt du nicht, hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Jes. 40, 26-31)

Diese Worte sind zunächst an die völlig verzweifelten, heimwehkranken Juden im babylonischen Exil gerichtet. Die Heimatvertriebenen damals mutmaßten: „Entweder ist unser Gott Jahwe damals (587 v. Chr.) tatsächlich von den babylonischen Göttern, von Marduk und den Gestirnen, besiegt und vernichtet worden, oder er ist noch da, aber interessiert sich ganz und gar nicht mehr für sein Volk.“

Immer wieder empfinden wir ähnlich, wenn Gott unsre heißen Bitten nicht so erfüllt, wie wir es uns vorgestellt haben. Dann fragen auch wir: Lebt ER noch? Und wenn ja, bin ich ihm egal? Wo ist denn der „liebe Gott“, von dem mir erzählt wurde? Und wenn unsre Not groß ist, wenn wir uns in dieser Coronazeit alleingelassen fühlen, wenn uns die Decke auf den Kopf fallen will und alles eigene Mühen nicht hilft, versinken auch wir in Trostlosigkeit wie die Juden damals.

Der Prophet ermuntert: Schaut nicht wie gebannt auf all das Schlimme, sondern hebt den Kopf. In der Nacht führt er sie hinaus und weist auf die ruhig nach erstaunlich dauerhaften Gesetzen kreisenden Sterne, die von den Babyloniern für Götter gehalten wurden. Er erinnert daran, dass Gott diese Sterne wie das gesamte Weltall geschaffen hat; zu sie sollen nicht vergessen, dass für Gott jedes Detail seiner Schöpfung wichtig ist und bleibt. Der 2. Jesaja klagt aber die Menschen, die den Kopf hängen lassen, nicht an. Er weiß, dass man Gott seine Zweifel und Verzweiflung sagen darf. Und er versucht, in den verzagten Menschen durch seine Fragen die Erinnerung an längst Verdrängtes wachzurufen: Gott ist da; er ist für dich da, so wie er sich seinerzeit dem Mose vorgestellt hat. Er ist da als der, welcher zuverlässig durch die Wüste in die Freiheit führt. Die Wege, die er führt, verstehen wir Menschen oft gar nicht. Und Gott lässt sich auch nicht in seinen Plan hineinreden oder irgendwie manipulieren. Er bleibt der HERR, der zum Ende bringt, was er sich vorgenommen hat. Und dieses Ende ist immer gut. Der Prophet nennt ihn darum den „Gott der Ewigkeit“, so wörtlich. Damit weist er aber nicht etwa auf einen St.-Nimmerleinstag hin, sondern darauf, dass ER vor, in und nach aller Zeit sich als der gütige Herr erweist. Da mögen Menschen noch so sehr protzen mit ihren Wunderwaffen, mit ihren Fähigkeiten. Wer auf sich selbst und nur auf den menschlichen Verstand setzt, wird irgendwann straucheln und fallen. In diesen Tagen geht uns (hoffentlich) auf, dass wir Menschen nicht alles im Griff haben, weder das verrücktspielende Klima noch unsre geliebte Gesundheit, sondern dass unser Schöpfer die Fäden immer noch in der Hand hat.

Nun will Gott aber nicht, dass wir uns in unsrer Müdigkeit hängen lassen. Der Prophet sagt: Gott gibt den Müden Kraft und gerade denen, die nichts mehr können, genug Stärke; also denen, die hilflos sind wie ein Neugeborenes! Säuglingen ist in ihren ersten Lebensstunden eine ganz besondere Fähigkeit geschenkt: Wenn man ihre Handinnenfläche mit einer Leine berührt, dann klammern sie sich ganz fest daran; ich sah einmal ein Foto von einem Neugeborenen, das mit seinen Händen und Füßen an einer Wäscheleine gekrallt hing! Diese angeborene Fähigkeit, sich festzuhalten, die sich nach kurzer Zeit wieder verliert, erinnert mich an das, was mit dem von Luther gewählten Wort „harren“ gemeint ist. Damit meint Luther mehr als nur ein passives Abwarten, nämlich ein zupackendes, vertrauensvolles Festhalten. Mich erinnert es an Worte aus Luthers abschließender Verteidigungsrede auf dem Wormser Reichstag 1521:

Ich muss verzweifeln. Aber das lass ich bleiben. Wie Judas mich an den Baum hängen, das tu ich nicht. Ich hänge mich an den Hals und Fuß Christi wie die Sünderin. Ob ich auch schlechter bin als diese, ich halte meinen Herrn fest. Dann spricht er zum Vater: Dieses Anhängsel muss auch durch. Es hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten, Vater, aber er hängt sich an mich. Was will‘s? Ich starb auch für ihn. Lass ihn durchschlupfen. Das soll mein Glaube sein.

Wer sich so wie Luther, als es um Tod oder Leben ging, ganz fest an Christus klammert, auf ihn „harrt“, dem gibt Gott neuen Mut und neue Kraft; der darf Gottes Leben in sich spüren und mit Gottes Hilfe das Notwendende tun: in unsrer Krise vielleicht einen einsamen Menschen anrufen und ihm vermitteln, dass er nicht vergessen ist. Gott will uns auffahren lassen „mit Flügeln wie Adler“. Der Vogel muss allerdings seine Flügel ausbreiten. Andernfalls wird er nie merken, dass die Luft ihn trägt, dass der Aufwind ihn in die Höhe steigen lässt. So lasst auch uns, statt zu verzagen, dran denken, dass Gott uns in unsrer Taufe mit unserm amen gerufen hat und dass er keinen vergisst, dass er auch dich kennt und dich liebhat; dass er uns hält wie gute Eltern ihr Neugeborenes.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Verstehen, der bewahre uns in

Christus Jesus. Amen.

Mit herzlichen Grüßen! Bleiben Sie behütet und gesund!

Heilwig Anschütz